16 Länderarchitektenkammern stellen sich auf Klimawende im Bauen ein und knüpfen an experimentelles Bauen vor 120 Jahren auf Welterbe Mathildenhöhe an. Von innovativen Architekten und Ingenieuren hängt der Erfolg der Wende zu klimaneutralem Bauen ab, stellt der Vizepräsident der hessischen Architekten- und Stadtplanerkammer, Holger Zimmer, zur Begrüßung gegenüber den Geschäftsführer*innen der 16 Länderarchitektenkammern in Darmstadt klar.
Die EUEU Europäische Union fordert im Zuge des Fit-for-55-Programms die Klimawende beim Planen und Bauen. Rund 40 Prozent der jährlichen Treibhausgas-Emissionen Deutschlands werden derzeit durch die Herstellung, Errichtung, die Modernisierung und den Betrieb sowie Abriss von Wohn- und Nichtwohngebäuden verursacht. Planerinnen und Planer sind zudem wegen der aktuellen, auch kriegsbedingten Baustoff- und Energieknappheit herausgefordert umzusteuern: Die erforderliche Digitalisierung des Planens zu Klimaschutz und Ressourcenschonung verlangt nach neuen Kenntnissen beim Gebäudedatenmanagement. Gebäudedatenmodelle dienen künftig als Grundlage etwa für ein digitales Gebäudedatenkataster und nationale Gebäuderenovierungspläne, die auch Aussagen zu drohender Energiearmut in der Bevölkerung enthalten sollen. „Insbesondere die erforderliche Treibhausgasbilanzierung jedes Neubaus und die obligatorische Wiederverwendung von gebrauchten Produkten der Kreislaufwirtschaft werden das Planen und Bauen von Grund auf verändern“, ist sich Zimmer sicher.
Verbraucher*innen und Allgemeinheit sind in Zukunft noch stärker auf die Kompetenz und Unabhängigkeit der planenden Berufe angewiesen als bislang. Diese entscheiden durch Erstellung von Sanierungsempfehlungen und Gebäude-Treibhausgasbilanzen für obligatorische digitale Gebäudedatenlogbücher mit darüber, welche Gebäudeeigentümer*innen künftig von einer durch die EU geplanten Sanierungspflicht getroffen werden könnten. Denn die im Rahmen der Gebäudeenergie-Richtliniennovelle (EPBDEPBD Energy Performance of Buildings Directive) angekündigten Vorhaben der EU-Kommission zur Vollerfassung des Gebäudebestands in nationalen Gebäuderenovierungsplänen sind weitreichend.
Zimmer begrüßte am 2. Mai die 16 Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer der bundesdeutschen Länderarchitektenkammern zu ihrem halbjährlich stattfindenden Koordinationsgespräch, das unter anderem den zur Treibhausgasbilanzierung erforderlichen Fortbildungsinitiativen für Architekt*innen durch die Akademien der Kammern galt. Das Gespräch fand diesmal in Darmstadt im Hochzeitsturm der Mathildenhöhe, Weltkulturerbe seit 14. Juli 2021, statt. Gemeinsam mit Zimmer begrüßte Alfred Helfmann, Vorstandsmitglied des seit 40 Jahren bestehenden Förderkreises Hochzeitsturm e.V., die Architektenkammervertreterinnen und -vertreter im Hochzeitszimmer.
Helfmann berichtete über den nochmaligen Aufschwung an Besucherinteresse seit der Aufnahme des Darmstädter Gebäudeensembles ins Welterbe im Juli 2021. „Wir freuen uns, gleichzeitig ist diese Wertschätzung Verpflichtung. Darmstadt und alle beteiligten Akteure müssen dieses baukulturelle Erbe besucherfreundlich präsentieren.“ Entsprechende Wertschätzung und Verständnis für den Wert der Baukultur seien ihrerseits wesentliche Faktoren für Nachhaltigkeit, ergänzte Zimmer. Gute Gestaltung führe zu langer Gebäudenutzung und guter Erhaltungspflege und vermeide bereits dadurch einen verschwenderischen Umgang mit der in den Baustoffen gespeicherten sogenannten grauen Energie, betonten Helfmann und Zimmer übereinstimmend.
Die Künstlerkolonie Mathildenhöhe wurde von Großherzog Ernst Ludwig 1899 gegründet und knüpfte an die englische Arts- and Crafts-Bewegung an. Die Engführung von Kunst und Handwerk – dokumentiert in der Landesausstellung von 1908, dem Jahr der Fertigstellung des Hochzeitturms – erlangt durch die Anforderungen der Kreislaufwirtschaft neue Aktualität. Schon 1908 lag ein Schwerpunkt auf kostengünstigem, ressourcenschonendem Bauen: Denn die Aufgabenstellung für die seinerzeitig ausgestellte Kleinwohnungskolonie besagte, dass die Arbeiterhäuser am Osthang der Mathildenhöhe mindestens drei Wohnräume haben sollten, aus einheimischen Baumaterialien herzustellen waren und als Einfamilienhaus nicht mehr als 4.000 Mark bzw. als Zweifamilienhaus nicht mehr als 7.200 Mark kosten durften. Daneben wurde von den Architekten der Entwurf einer kompletten Innenausstattung für weniger als 1.000 Mark je Wohnung gefordert.
Die heutige Baustoff- und Bauprodukteknappheit sowie der Klimaschutz verlangen gleichfalls nach erfindungsreichen Planer*innen und Handwerker*innen, die alte Bauteile wiederverwenden können. Diese Neuausrichtung des Planen und Bauens werde wesentlich zur Stärkung regionaler Wertschöpfungsketten und zur Verringerung des ökologischen Fußabdrucks beitragen, zeigte sich Zimmer überzeugt. „Wir setzen uns deshalb als Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen für eine Steigerung der Holzbauquote in Hessen, einem der waldreichsten Bundesländer, ein“, unterstrich der Architekt und verwies auf das aus seiner Sicht mit einer schon längst gestarteten Holzbau-Initiative vorbildliche Nachbarland Baden-Württemberg.
Gleichzeitig solle man nach Auffassung des Vizepräsidenten der AKHAKH Architekten- und Stadtplanerkammer Hessen den mit der Darmstädter Mathildenhöhe erstmals verwirklichten Gedanken einer innovativen, experimentellen Bauausstellung verstärkt nutzen. Um den großen Herausforderungen der Zukunft gerecht zu werden, sei es nicht nur nützlich, sondern unerlässlich, experimentelles Bauen zu ermöglichen.